Ob ein Kind mit Hörschädigung in Deutschland mit Gebärdensprache aufwächst darf nicht mehr Zufall sein

Ein Interview mit Petentin Magdalena Stenzel
Magdalena Stenzel aus Dresden hat im Januar 2018 eine Petition zur Umsetzung des Rechts auf Gebärdensprache im Bildungssystem gestartet. Mittlerweile haben über 15.000 Menschen die Petition mit ihrer Unterschrift unterstützt. Wir sprachen mit ihr zu Zielen und Hintergründen.
Frau Stenzel, Sie setzen sich sehr engagiert für das Grundrecht tauber Kinder auf Bildung in Deutscher Gebärdensprache ein und kommen dabei mit vielen Menschen aus Politik und Verwaltung zusammen. Wie ist die überwiegende Reaktion der Menschen mit denen Sie über die Petition reden?
Viele Menschen sind irritiert und glauben mir zunächst gar nicht, dass Gebärdensprache Kindern mit Hörschädigung und deren Eltern in der Regel nicht selbstverständlich angeboten wird. Ich berichte dann, dass das Förderwesen in der Regel nach wie vor Sprechen und Hören und Technik fokussiert.
Wenn ich erzähle, dass wir selbst mehrere Jahre lang klagen mussten, damit unser Kind und wir Eltern Gebärdensprache lernen durften und dass in Chemnitz Eltern per Gericht einen Dolmetscher für die Förderschule bekommen haben, dann beginnen mir die Leute zu glauben. Sie sind verärgert oder entsetzt, dass Kinder mit Hörschädigung so einseitig gefördert werden und unterstützen die Petition mit dann mit Nachdruck.
- mit Bengt Förster (Gehörlosenverband Niedersachsen), Helmut Vogel (Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes), Katrin Pflugfelder (Präsidentin des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder)
- mit Corinna Rüffer (Mitglied des Deutschen Bundestages)
- mit dem Liedermacher Gerhard Schöne
- mit Eltern des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder e.V. und des Biling e.V. und Sandra Gogol (Bundesverband der Gebärdensprachdozenten) und Prof. Dr. Christian Rathmann (HU Berlin)
- mit Eltern des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder e.V. und Prof. Patricia Hermann-Shores (HfH Zürich)
- mit Dr. Eva-Maria Stange (Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst im Freistaat Sachsen)
- mit Karin Kestner (Gebärdensprachdolmetscherin und Verlegerin)
- mit Dr. Oliver Rien
Viele finden Gebärdensprache sehr wertvoll und sehen sie gern im Fernsehen nebenbei. Dabei fällt vielen Leuten auf, dass im Ausland weit mehr Gebärdensprach-Einblendungen im Fernsehen zu sehen sind. Sie kommen ins Nachdenken. Einige Leute sagen, dass sie sich wünschen auch Gebärdenspache zu können und sich für ihre (hörenden) Kinder Gebärdenspache in Kita und Schule als Kennlernsprache und Schulfach wünschen.
In der Vergangenheit wurden durch die Beschlüsse des Mailänder Kongresses im Jahr 1880 (Fokussierung auf die lautsprachliche Fördermethodik und die bewusste Ablehnung der Gebärdensprache) im Bereich der Gehörlosenpädagogik gravierende Fehler gemacht, die sich bis in die Gegenwart auswirken. Was sind in Ihren Augen die massivsten Auswirkungen?
Bei den meisten Menschen mit Hörschädigung hat diese Entwicklung massive Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten sich zu entfalten. Bildung und Gemeinschaftserfahrungen hängen dann an der Hörbehinderung und am Sprechen bzw. Lautsprachverstehen. Das bleibt aber bei meinem Kind immer eingeschränkt bis unmöglich.
Für einige Betroffene bedeutete dieser Förderweg sprachliche Deprivation. Also eine mangelhafte Sprachentwicklung, die sich auf alle kognitiven Bereiche auswirken kann – krass und vergleichbar mit „Wolfskindern“. Daher ist die Gebärdensprache inzwischen häufig zumindest als „Nothaken“ – anerkannt, wenn Kinder gar keinen Zugang zur Lautsprache haben über das Hören.
Leider fehlen aber vielerorts kompetente gebärdensprachliche Angebote, es mangelt an Dozenten und Dolmetschern. Die Verwaltung ist auf gebärdensprachliche Angebote ebenso wenig vorbereitet und viele Eltern müssen lange Antrags- und Klagewege in Kauf nehmen. Entwicklungszeit der Kinder verstreicht. Das muss sich verändern.
Ein weiterer Aspekt ist das Selbstverständnis von Kindern mit Hörschädigung. Der einseitige hörgerichtete Förderweg suggeriert den Kindern zu Hören. Damit stoßen sie dann permanent an Barrieren und sammeln negative Erfahrungen. Die UN BRK beinhaltet aber auch Mentoring durch Gleichbetroffene und Unterstützung bei der Identitätsentwicklung.
Wissen die Menschen, mit denen Sie über die Umsetzung des Artikels 24 UN BRK diskutieren, dass in vielen Fördereinrichtungen für Hörgeschädigte die tauben Schüler durch den lautsprachlichen Unterricht diskriminiert werden und nicht den vollen Zugang zum Unterrichtsinhalt haben?
Die meisten Leute wissen das nicht und es ist schwer für sie zu glauben. Selbst nach einem Gespräch kommt dann doch wieder die Frage: Aber warum ich mein Kind nicht in eine Fördereinrichtung gebe und dass sie sich nicht vorstellen könnten dass dort wirklich der Unterricht nicht in Gebärdenspache angeboten würde. Andere meinen dass sie jemanden kennen, der alles von den Lippen ablesen könne. Das wäre super. Dass Lippenlesen aber eine Menge Vorwissen und reine Spekulation bedeutet wissen sie nicht. Wenn Kinder also neue Inhalte erfahren, so versuche ich dann zu erklären, ist diese Variante der Unterrichtung äußerst ungeeignet…
Welche Aufgaben liegen vor Politik, Verwaltung und Förderpädagogik?
Ob ein Kind mit Hörschädigung in Deutschland mit Gebärdensprache aufwächst darf nicht mehr Zufall sein.
Die UN BRK benennt im Bildungsartikel 24 mehrfach Gebärdensprache und weist explizit auf folgende Punkte hin: Mentoring durch Gleichbetroffene; Erleichterung des Gebärdenspracherwerbs und der sprachlichen Identität; Bildung in Gebärdensprache im bestmöglichen Umfeld. Ebenso müssen die Vertragsstatten der UN BRK für ausreichend (taube) Gebärdensprachpädagogen und (bilinguales) Bildungsmaterial sorgen.
Es ist ganz klar, dass Gebärdensprache nicht mehr diskriminiert werden darf, sondern als gleichwertige Sprache gelebt werden müsste. Kinder und Eltern haben für die bisher häufige Abwertung ein sehr feines Gespür… Sprache ist ein hochsensibles Thema und eng mit der Identitätsentwicklung, dem Selbstwert und dem Selbstwirksamkeitserleben verbunden.
Daher muss die Kultusministerkonferenz ihre Empfehlungen zum „Förderschwerpunkt Hören“ von 1996 dringend aktualisieren und an die UN BRK anpassen. Die selbe Aufgabe haben die Kultusministerien der Länder und ebenso kritisch müssen Bildungseinrichtungen ihre Diagnostikverfahren, Konzepte und alltägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung überarbeiten. Kinder müssen immer Zugang zu beiden Sprachen haben für Spracherwerb, Bildungsinhalte, und soziale Kontakte – gleich ob in Regel- oder in Fördereinrichtungen.
Ein einzigartiges Beispiel dass dies gelingen und entwickelt werden kann ist das Erfurter Schulprojekt mit inklusivem und bilingualem Angebot in der Gemeinschaftsschule „Am Roten Berg“ . Hier werden beide Sprachen vollwertig durch 2 Pädagogen angeboten.
Wir fordern auch die bundesweite Anerkennung und Umsetzung von Gebärdensprache als sogenanntes Wahlpflichtfach. Es bedarf sicherlich einiger Anstrengung um dem Fachkräftemangel zu beheben. Zudem muss das Verbot eines Nachteilsausgleiches (z.B. Gebärdensprachdolmetscher für die meisten Masterstudiengänge) beim zweiten Bildungsweg aufgehoben werden!
Bei den betroffenen Familien schließt sich wieder der Kreis. Gebärdensprache muss für Kinder mit Hörschädigung und ihre Familien ebenso leicht zugänglich sein wie Hörgeräte oder CIs – mit der damit verbundenen Förderung.
Was genau erhoffen Sie sich von der Petition für Sachsen bzw. auch bundesweit?
Wir möchten Aufklären, Unterstützer finden und Menschen vernetzen. Wir möchten Betroffenen Mut machen und zeigen, dass ihr Kampf für ihr Kind genau richtig ist und wir möchten langfristig mit Politik in den Diskurs kommen. Es geht um Lobbyarbeit – und darum eine Zukunft zu ermöglichen. Unsere Kinder brauchen die Gebärdenspachgemeinschaft und zugängliche und offene Bildungswege um ihr Leben einmal kompetent selbst in die Hand zu nehmen. Das wollen wir möglich machen – mit guten Argumenten, Ausdauer und gemeinsam vernetzt.
Wie kann man die Petition unterstützen?
Unterschreiben bei www.openpetition.de/!gehoerlosekinder. Die Unterschriftensammlung läuft noch bis 17.11.18. Weitersagen/ Weitergebärden, darüber schreiben im Internet, per Mail oder eine (lokale) Presse Mitteilung machen. Unterschriften können auch auf Papierlisten gesammelt werden. Herunterladen und Hochladen ganz einfach: https://www.openpetition.de/pdf/unterschriftenformular/gebaerdensprache-umsetzen-bilingual-bimodal-endlich-normal Außerdem suchen wir Homepages, die „Gebärdensprache „umsetzten per Banner oder Widget auf ihrer Homepage erscheinen lassen. Widgets und Bannercodes gibt es unter „Werkzeuge für die Verbreitung der Petition“ auf www.openpetition.de/!gehoerlosekinder
Das wäre eine super Unterstützung! Flyer, Plakate und Sticker verbreiten ist ebenso möglich (Material kann per Mail angefragt werden: bilingualerleben@gmx.de). Facebook ist aktuell unser stärkstes Kommunikationsmittel. Aktuelles erfahren Sie unter: Bilingualerleben. Videos, Texte, Bilder erstellen, teilen und gern kreativ werden. Das hat große Wirkung!
Jeder darf mitmachen und seine Ideen einbringen! Wir freuen uns über Vernetzung, Teamarbeit und neue Ideen! Denn es geht um die Zukunft unserer Kinder!