Wir fordern die Umsetzung der Deutschen Gebärdensprache als Fremdsprachenfach
Offener Brief an Herrn Bildungsminister Helmut Holter:
Einführung des Faches „Deutsche Gebärdensprache als Fremdsprache“
Sehr geehrter Herr Minister Holter,
um in unserem Land Thüringen für Schüler:innen mit Hörbehinderung eine gleichberechtigte Teilhabe an schulischer Bildung zu ermöglichen und um eine funktionierende inklusive Gemeinschaft von Menschen mit und ohne Hörbehinderung zu erreichen, ist das Unterrichtsfach Deutsche Gebärdensprache (DGS) als Fremdsprachenfach für alle Schüler:innen unerlässlich (und auch gesetzlich gefordert[1]).
Für Schüler:innen, die bilingual mit DGS aufwachsen bzw. für die DGS ihre Muttersprache ist, ist der Erwerb von Wissen über die eigene Sprache (grammatikalisches Regelwerk, sprachliche Stilmittel, sprachliche Kunstformen, Kultur der Deutschen Gebärdensprache) nicht nur für die eigene Persönlichkeitsentwicklung wichtig, sondern auch um kontrastiv die deutsche und weitere Schriftsprachen erlernen zu können.
Ihre Mitschüler:innen erlernen mit der DGS eine Fremdsprache aus dem eigenen Land, entwickeln Bewusstsein für die Sprache, Kultur und Lebenswelt der Gebärdensprachgemeinschaft, verbessern ihre visuellen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, stärken ihre Persönlichkeits- und Sprachentwicklung in visueller Hinsicht – und können sich nicht zuletzt besser mit allen Mitschüler:innen verständigen und gemeinsam eine inklusive Gesellschaft aufbauen.
Erst kürzlich, am 19.03.2021, wurde die Deutsche Gebärdensprache in das bundesweite Verzeichnis des Nationalen Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen! Das bringt zum Ausdruck, dass die DGS eine lebendige kulturelle Tradition hat und als Ausdrucks- und Kulturform in Deutschland praktiziert wird und weitergegeben werden soll.
Thüringer Maßnahmenplan: Unterrichtsfach DGS ab 2020 vorgesehen, aber nicht umgesetzt
Bereits 2018 wurde im Thüringer Maßnahmenplan zur Umsetzung der UN-BRK die Einführung von DGS als Wahlpflichtfach für hörbehinderte Schüler:innen und ihre Mitschüler:innen festgeschrieben. Umsetzungsziel war Ende 2020, aber leider ist bisher nichts passiert: Es gibt keinen Lehrplan, keine Unterrichtsmaterialien, keine Arbeitshilfen zur Umsetzung für die Schulen und auch keine Handlungsanweisungen für die Schulämter.
Wir haben unser Anliegen bereits in mehreren persönlichen Treffen an Sie herangetragen und möchten Sie nun mit Nachdruck dazu auffordern, die Deutsche Gebärdensprache als Fremdsprachenfach in allen thüringischen Bildungsgängen bis zum Schulabschluss zu etablieren und dazu einen Rahmenlehrplan DGS nach dem Hamburger Vorbild für Thüringen zu entwickeln. Dafür signalisieren wir Ihnen unsere Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Erarbeitung des Thüringer Rahmenlehrplanes Deutsche Gebärdensprache.
Ein Fremdsprachenfach Deutsche Gebärdensprache trägt auch dem Mehraufwand Rechnung, den mit DGS aufwachsende Schüler:innen durch das Erlernen der Deutschen Schriftsprache als Zweitsprache haben: Es mildert ihre Benachteiligung ab, Abschlüsse ansonsten nur in für sie fremdsprachigen Fächern ablegen zu können.
KMK: Rahmenlehrplan DGS in Arbeit
Eine Arbeitsgruppe der Kultusministerkonferenz (KMK) erarbeitet derzeit einen Rahmenlehrplan DGS für die Klassen 1–10 für alle Bundesländer. Wir bitten Sie darüber hinaus darum, dieser Arbeitsgruppe der KMK auch den Auftrag zu erteilen, den Rahmenlehrplan DGS auf die Sekundarstufe II auszuweiten. Denn warum soll den Schüler:innen, die sich für das Abitur entscheiden, die Möglichkeit verwehrt bleiben, die DGS als Fremdsprachenfach zu wählen?
Die Einführung des Fremdsprachenfaches „Deutsche Gebärdensprache“ wird auch bei der nächsten Sitzung des Landesbehindertenbeirats im September 2021 auf der Tagesordnung stehen. Wir würden uns freuen, wenn wir von Ihnen bis dahin bereits konkrete Antworten auf dieses Schreiben bekommen können.
Weiterführende Informationen über die Bedarfe und Rechte hörbehinderter Kinder sowie die Forderungen der von uns unterstützten Petition „Gebärdensprache umsetzen“ entnehmen Sie bitte der beiliegenden Broschüre. Sie wurde von Eltern-, Betroffenen- und Fachkräfteverbänden entwickelt, zeigt sieben Handlungsfelder auf und bietet umfangreiches Hintergrundwissen.
Abschließend betonen wir nochmals unsere Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung bei der Erarbeitung des Thüringer Rahmenlehrplanes „Deutsche Gebärdensprache als Fremdsprache“ und hoffen, dass Sie unser Angebot annehmen werden!
Mit freundlichen Grüßen
Harri Etzhold
2. Vorsitzender |
Manuel Löffelholz
1. Vorsitzender |
Anlagen:
DGS Rahmenlehrplan der Stadt Hamburg:
https://www.hamburg.de/contentblob/9212584/de5a952e80d13fa3a7ebf67fb345ac54/data/gebaerdenspr-.pdf
Broschüre «Nie wieder Sprachlos – Gebärdensprache umsetzen!»:
http://www.sprach-schatz.org/wp-content/uploads/2020/04/Sprachschatz_broschuere.pdf
Verteiler dieses offenen Briefes: Helmut Holter (Thüringer Minister für Bildung, Jugend und Sport), Joachim Leibiger (Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen), Pressestelle der Kultusministerkonferenz, Ralf Schneider (Paritätischer Landesverband Thüringen)
[1] Gleichstellung der Gebärdensprache nach § 8 ThürGIG i.V.m. § 12 Abs. 1 ThürGIG gem. Entschließung des EU-Parlaments 2016/2952(RSP) Nr. 21–26 (Gebärdensprache in Schulen) sowie Art. 24 Abs. 3 der UN-Behindertenrechtskonvention (Recht auf Bildung in Gebärdensprache).